Growth-Strategie & Value-Strategie – das 1×1 der großen Strategien

Die Growth-Strategie und die Value-Strategie gelten als prominente Vertreter der Fundamentalanalyse und Klassiker dieser Denkschule. In ihrem Mittelpunkt steht die Auswahl von Wertpapieren auf der Grundlage von Unternehmenskennzahlen.

Rückblick und Einführung

Nachdem wir uns bereits mit der Grundsatzfrage auseinandergesetzt hatten, ob die Kapitalmärkte effizient oder ineffizient sind, standen mit der Chart- und der Sentimentanalyse im letzten Beitrag zwei Anlagestrategien im Fokus, die von ineffizienten Märkten ausgehen.

Beide Ansätze nehmen tendenziell die Vogelperspektive ein: Die Chartanalyse nimmt an, dass zahlreiche Detailinformationen bereits im Kursverlauf eines Wertpapiers enthalten sind und durch das Erkennen von Mustern Prognosen für die Zukunft möglich werden. Die Sentimentanalyse wertet Stimmungen am Gesamtmarkt aus (weniger in Bezug auf einzelne Unternehmen) und leitet aus Indikatoren wie dem Angst-Gier-Index Kauf- oder Verkaufsignale ab.

Demgegenüber steht die Fundamentalanalyse mit ihren Subdisziplinen wie der Growth-Strategie und der Value-Strategie (daneben gibt es noch einige weitere). Im Zentrum der Fundamentalanalyse – ihr ahnt es – steht die Auswertung von Fundamentaldaten des Wertpapiers. Im Falle einer Aktie sind damit die Kennzahlen des hinter der Aktie stehenden Unternehmens gemeint.

Errechnet werden diese ganz überwiegend aus den regelmäßig veröffentlichten Unternehmensdaten wie der Gewinn-und-Verlustrechnung (auch Ergebnisrechnung oder im Englischen „income statement“), der Bilanz (im Englischen „balance sheet“) und der Kapitalflussrechnung (im Englischen „cash flow statement“). Zu den bekannten, so ermittelten Kennzahlen zählt das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV), das sich aus der Division des Aktienkurses durch das Ergebnis je Aktie ergibt und etwas darüber aussagt, wie teuer die Aktie gerade ist.

Growth-Strategie: Wachstum im Fokus

Wer eine Growth-Strategie verfolgt, interessiert sich für solche Unternehmen, denen er glänzende Wachstumsaussichten zutraut. Ein berühmter Growth-Investor ist der ehemalige Fondsmanager Peter Lynch, der vor allem im Laufe der 1980er Jahre mit dem von ihm gemanagten Magellan Fund märchenhafte Renditen erzielte.

Anders als ihren Cousins, den Value-Investoren (siehe unten), sind Vertretern der Growth-Strategie aktuelle Erträge zunächst grundsätzlich egal. Sie bevorzugen Unternehmen, deren künftige Erträge hoch eingeschätzt werden und deren aktuelle Umsätze explosiv wachsen. Um es bildhaft auszudrücken: Diese Investoren suchen nicht den Spatz in der Hand, sondern die Taube auf dem Dach. Wer heute kräftig wächst und Marktanteile gewinnt, wird wahrscheinlich auch künftig die dazu passenden hohen Gewinne erwirtschaften.

Das wohl bekannteste und gleichzeitig auch eines der treffendsten Beispiele ist der Versandhändler Amazon. 1994 als Online-Buchhändler gestartet, hat sich Amazon inzwischen zu einem der weltweit dominanten Tech-Giganten entwickelt: Man kann auf Amazon nicht nur fast alles bestellen, sondern auch Cloud-Services nutzen, Videos streamen, Musik hören und vieles mehr. Diese Expansion erforderte hohe Investitionen, die das Unternehmen stemmen konnte, indem es nahezu jeden Dollar, der nach Abzug der Kosten vom Umsatz übrigblieb, in weiteres Wachstum investierte (Amazon hat noch nie eine Dividende gezahlt).

Verfechtern der Growth-Strategie kommt es also nicht darauf an, Dividenden zu kassieren, sondern von stark steigenden Aktienkursen der Wachstumsunternehmen zu profitieren. Für die Kennzahlenanalyse bedeutet das, dass das künftig erwartete KGV (im Englischen auch „forward P/E“, wobei P/E für „price-to-earnings ratio“ steht) deutlich niedriger als das aktuelle KGV (im Englischen „trailing P/E“) liegen sollte. Der Blick auf die Berechnungsformel erhellt das Ganze: Der Nenner des KGV, also der Gewinn, sollte schneller steigen als der Zähler, also der Aktienkurs. Ein schneller wachsender Nenner führt zu einem sinkenden KGV.

Bei der Auswahl eines Wachstumsunternehmens nach der Growth-Strategie empfiehlt es sich, sich nicht nur an einigen Kennzahlen zu orientieren. Ein Blick in die Unternehmensdaten sollte euch davon überzeugen, dass das Unternehmen über längere Zeiträume starkes Umsatz- und Gewinnwachstum aufweist und für euch absehbar ist, dass sich dieser Trend fortsetzen wird. So solltet ihr bei Pharmaunternehmen, die auf die Herstellung von Antigen-Schnelltests spezialisiert sind, Vorsicht walten lassen: Mit dem Abflauen der Pandemie sollte auch die Nachfrage nach den Tests zurückgehen.

Gibt es so etwas wie die richtige Zeit für Growth-Investments? Pauschal wird sich diese Frage nicht beantworten lassen. Allerdings kann man rückblickend durchaus festhalten, dass die Jahre seit der Finanzkrise (ca. 2009 bis ca. 2021) ein guter Zeitraum für Growth-Strategien waren. Zum einen erlebte die Weltwirtschaft in dieser Zeit eine sich beschleunigende Digitalisierung, in deren Zuge neue, schnell wachsende Geschäftsmodelle entstanden. Zum anderen waren und sind niedrige Zinsen und niedrige Inflationsraten gut für Wachstumsunternehmen, denn für Investitionen geliehenes Kapital ist dann billiger verfügbar.

Value-Strategie: Qualität im Fokus

Spiegelbildlich zu Growth-Investoren suchen Value-Investoren nicht nur zukünftige Werte (wie das nächste Amazon), sondern vor allem auch heutige Werte (im Englischen „value“) wie das heutige Apple. Sie interessieren sich für Unternehmen herausragender Qualität, die heute und wahrscheinlich auch in Zukunft hohe Erträge für ihre Aktionäre erwirtschaften und diese entweder profitabel ins Unternehmen reinvestieren, oder als Dividende ausschütten oder in Form von Aktienrückkäufen an die Eigentümer zurückgeben.

Dazu wählen sie Aktien von Unternehmen aus, die über ein starkes Geschäftsmodell, nachhaltige Wettbewerbsvorteile, ein hervorragendes Management und idealerweise auch wachsende oder zumindest stabile Absatzmärkte verfügen. Wir schauen uns diese Faktoren kurz im Detail an, um uns einen besseren Überblick über die Value-Strategie zu verschaffen.

Folgt man dem wohl berühmtesten Value-Investor, Warren Buffett, dann sind starke Geschäftsmodelle einfach und verständlich. Coca-Cola, eines seiner langfristigsten Investments, verkauft bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts sein beliebtes Erfrischungsgetränk, das sich ungebrochener Beliebtheit erfreut. Inzwischen sind zwar einige weitere Getränke im Sortiment dazugekommen, aber das grundlegende Geschäftsmodell hat sich nicht verändert: Coca-Cola produziert Softdrinks, die es in aller Welt profitabel verkauft. Komplexe, schwer zu verstehende Geschäftsmodelle meiden Value-Investoren zumeist.

Nachhaltige Wettbewerbsvorteile – Buffett nennt diese metaphorisch Burggraben (im Englischen „moat“) – stellen sicher, dass das Unternehmen seine Produkte profitabel verkaufen kann. Zu den greifbaren Facetten eines Burggrabens gehört z.B. die Stärke der Marke: Apples iPhone steht für hohe Verarbeitungsqualität, convenience, Zuverlässigkeit und Langlebigkeit. Die Kunden des Unternehmens beweisen seit Jahren, dass sie für den Apfel auf ihrem Smartphone tiefer in die Tasche greifen als für das Flaggschiff-Modell von Xiaomi. Dieser Vorteil verleiht Apple eine für die Aktionäre gewinnbringende Preissetzungsmacht.

Verfechter der Value-Strategie legen außerdem Wert auf ein hervorragendes Management, das bewiesen hat, vorhandene Ressourcen zielgerichtet in die profitabelsten Geschäftsaktivitäten zu lenken. Andererseits sollte das Management stets im Interesse der Aktionäre handeln. Mangelt es z.B. an Möglichkeiten, Erträge sinnvoll wieder ins Geschäft zu investieren, sollte das Management die Gewinne ausschütten, anstatt sie in sinnlose Übernahmen zu stecken. Value-Investoren mögen daher Managements, die selbst zu einem bedeutenden Teil an der Firma beteiligt und deshalb mehr Unternehmer als Manager sind.

Die Märkte, in denen das Unternehmen operiert, sollten auch in Zukunft für stabile Nachfrage nach den Produkten sorgen, besser sogar noch wachsen. Vertreter der Value-Strategie stellen sich häufig die Frage, was sich wohl in 15 oder 20 Jahren nicht ändern wird. Gut möglich, dass zuckerhaltige Erfrischungsgetränke dann in der Versenkung verschwunden und z.B. durch Stevia-basierte Getränke ersetzt worden sein werden. Die Chancen stehen aber gut, dass Menschen weiterhin Erfrischungsgetränke konsumieren werden. Und wer hat schon über 100 Jahre lang bewiesen, den Geschmack zu treffen? Richtig, Coca-Cola.

Haben Value-Investoren ein solches großartiges Unternehmen identifiziert, stellt sich noch eine weitere Frage: Zu welchem Preis kaufe ich Aktien? Im Gegensatz zu Growth-Investoren suchen die Buffetts dieser Welt eher nach den „Schnäppchen“ und werden nicht selten bei Aktien fündig, die nicht gerade sexy wirken und deshalb nicht gefragt sind. Idealerweise liegt der innere Wert des Unternehmens, den Value-Investoren berechnet haben, leicht oder auch deutlich unterhalb des aktuellen Marktwertes der Firma. Das aktuelle KGV dieser Aktien wird also eher niedrig als hoch sein.

Was ist die richtige Zeit für Value-Investments? Auch hier kann man einen Rückblick auf die oben schon erwähnte Zeit seit der Finanzkrise wagen. Diese war spiegelbildlich zur Growth-Strategie gerade keine besonders erfolgreiche Zeit für die Value-Strategie; aktiv anlegende Investoren bevorzugten die großen Wachstumsunternehmen wie Amazon, Google und Facebook, verschmähten aber die „langweiligen“ Coca-Colas. Mit der Zinswende und den erhöhten Inflationsraten, die starke Markenunternehmen eben einfach an die Kunden weitergeben können, scheint sich das zu ändern.

Growth-Strategie & Value-Strategie: (K)ein Widerspruch?

In einem seiner Bücher beschreibt der weiter oben erwähnte Peter Lynch, wie eine Gruppe abenteuerlich gekleideter Männer (sie trugen scheinbar Arbeitskleidung mit der großen Aufschrift „Waste Management“) in den Büros seiner Fondsgesellschaft aufschlugen, um nach einem Investoren zu suchen. Die lustige Truppe entpuppte sich als der Vorstand eines Abfallbeseitigungsunternehmens, also dem Inbegriff einer unattraktiven, langweiligen Firma.

Nun ja, einer ziemlich profitablen und stabilen Firma mit einem ziemlich breiten und tiefen Burggraben. Waste Management entwickelte sich über viele Jahre hervorragend, weil die Dienstleistung – Abfallbeseitigung – in stetig wachsendem Umfang nachgefragt wurde, wohl bis auf weiteres nachgefragt wird und es nicht viele Konkurrenten gab, die die gleiche Dienstleistung anboten. Selbst im vergangenen Jahr (2022) betrug die Eigenkapitalrendite des Unternehmens über 30%.

Growth- und Value-Strategien müssen deshalb kein Widerspruch sein. Buffetts größte Einzelposition, Apple, erfüllt zweifellos alle Anforderungen an eine Value-Aktie: starkes Geschäftsmodell, breiter Burggraben, Top-Management und gesicherte Absatzmärkte. Gleichzeitig wächst das Unternehmen aber auch, steigert seine Marktanteile und ist jederzeit für eine revolutionäre Innovation gut, die gänzlich neue Absatzmärkte erst erschafft. Buffetts Augen für den Wert des Wachstums wurden seinen Biographen zufolge erst im Laufe seiner Karriere durch seinen kongenialen Partner Charlie Munger geöffnet.

Fazit: Growth- und Value-Investoren (oder gänzlich andere „Fundis“, also Anhänger der Fundamentalanalyse) treffen ihre Kauf- oder Verkaufsentscheidungen auf der Grundlage von Unternehmenskennzahlen. Beide Denkschulen haben sehr erfolgreiche Investoren hervorgebracht, denen zumindest ein weiteres gemein ist: Sie sind eher langfristig orientierte Anleger.

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