Zwei Titanen im großen Duell – Effizienzmarkthypothese vs. Warren Buffett

Sind die Kurse von Wertpapieren immer auch die fairen Preise oder gibt es so etwas wie Über- und Unterbewertungen? Die Anhänger der Effizienzmarkthypothese und jene des Starinvestors Warren Buffett streiten erbittert über das Thema dieses Beitrags.

Die Duellanten: Effizienzmarkthypothese vs. Warren Buffett

Das Leben hat uns daran gewöhnt, auf die Grauschattierungen zu achten und Kompromisse einzugehen. Die meisten trinken weder permanent Alkohol, noch niemals; sie trinken gelegentlich ein bisschen. Und Andy Möller verkündete „Mailand oder Madrid – Hauptsache Italien!“

Trotzdem gibt es auch sie, die polarisierenden Fragen. Sie fordern uns auf, uns für eine Seite zu entscheiden. Dortmund oder Schalke? Jedi oder Sith? Kölsch oder Alt? Aronal oder Elmex? Und in Amerika: Wall Street oder Main Street?

Die Frage nach Wall Street oder Main Street schlägt die Brücke zum Thema dieses Beitrags, denn sie steht sinnbildlich für den Gegensatz der Financiers und Finanzökonomen, die mit dem New Yorker Finanzdistrikt in Verbindung gebracht werden, und den einfachen, bodenständigen Amerikanern, die in ihren kleinen Städten um die Hauptstraße, die Main Street herum leben und arbeiten.

Unser Repräsentant der Wall Street heißt Eugene Fama, trägt seit 2013 den Nobelpreis, ist 84 und Finanzökonom. Sein Spezialgebiet ist die Kapitalmarkttheorie und in den 1970er Jahren prägte er maßgeblich die Effizienzmarkthypothese, nach der es vereinfacht gesagt unmöglich ist, durch geschickte Kapitalanlage langfristig eine höhere Rendite als der breite Markt zu erzielen.

Ihm gegenüber steht als Repräsentant der Main Street Warren Buffett, 92 (wie ich im vorherigen Beitrag schon schrieb: Die Finanzleute werden alle ziemlich alt!), Multimilliardär, aber äußerst bescheiden in Omaha, Nebraska lebend. Buffett prägte maßgeblich die Anlagestrategie des Value-Investing, nach der es vereinfacht gesagt sehr wohl möglich ist, durch geschickte Kapitalanlage langfristig eine höhere Rendite als der breite Markt zu erzielen.

Die Frage, welche der beiden Denkschulen recht hat, ist nicht nur intellektuell, sondern auch praktisch höchst interessant für uns. Die in den drei Beiträgen zu Sparplänen, schnellen Anlagemöglichkeiten und zur strategischen Asset Allokation vorgestellten passiven Anlagestrategien reflektieren jeweils den Glauben an die Effizienzmarkthypothese. Wir versuchen in diesen Fällen erst gar nicht, den Markt zu schlagen. Die aktiven Anlagestrategien, die wir uns in den nächsten Beiträgen ansehen, halten die Aktienmärkte zumindest in wichtigen Bereichen für nicht effizient und trauen sich zu, den Markt zu schlagen.

Grundzüge der Effizienzmarkthypothese

Der wichtigste Punkt für das Verständnis der Effizienzmarkthypothese sind Informationen. Angenommen, ihr wollt einen Gebrauchtwagen kaufen: Natürlich schaut ihr euch den Wagen vorher an, befragt den Verkäufer und macht vielleicht eine Probefahrt. Ob das Auto aber nicht äußerlich sichtbare Schäden hat, werdet ihr dabei nicht ermitteln können. Ihr seid auf die Ehrlichkeit des Verkäufers angewiesen, der einen Informationsvorsprung hat. Übersehene Schäden können dazu führen, dass ihr den Wagen letztlich zu einem höheren Preis einkauft, als er tatsächlich wert ist.

An nicht privaten Kapitalmärkten wie z.B. der Börse, so die Vertreter der Effizienzmarkthypothese, kann das nicht passieren. Denkt dazu über folgendes, noch recht aktuelles Beispiel nach: Als Russland Anfang 2022 in die Ukraine einfiel, gerieten die Märkte recht schnell in heftige Bewegung. Insbesondere Rüstungskonzerne wie in Deutschland etwa Rheinmetall erlebten ein wahres Kursfeuerwerk an den Börsen. Investoren erwarteten, dass nun auch europäische Staaten ihre Verteidigungsausgaben erhöhen und Waffensysteme erwerben würden. Das würde zu höheren Gewinnen z.B. bei Rheinmetall führen, weshalb Investoren die Aktie kauften und der Kurs kräftig stieg.

Der zentrale Glaubenssatz der Effizienzmarkthypothese besagt, dass der Kapitalmarkt mit seiner Vielzahl an Akteuren jede öffentlich verfügbare Information – Zinsentwicklung, Unwetter, Inflation, usw. – jederzeit und vor allem sofort einpreist. Spätestens seit dem Einsatz moderner IT handeln Computer in Sekundenbruchteilen, wenn neue Informationen verfügbar werden. Wenn der Privatanleger auf die Idee kommt, Rüstungsaktien zu erwerben, haben die Profis längst gekauft und der Kurs ist bereits gestiegen.

Die Kursentwicklung, so Eugene Fama, ist deshalb nicht vorhersagbar und folgt einem „random walk“, also einem zufälligen Weg. Der aktuelle Kurs eines Wertpapiers ist notwendigerweise immer der aktuell faire Preis, denn er enthält alle öffentlich verfügbaren Informationen. Für uns bedeutet das: Wir können den Markt nicht schlagen, sondern z.B. durch passive Anlagestrategien lediglich die (beileibe nicht schlechte!) durchschnittliche Marktrendite erzielen.

Aber was ist mit nicht öffentlichen Informationen? Angenommen, euer Neffe arbeitet bei einer großen Bank und erzählt euch, ein Großkunde der Bank habe akute Zahlungsprobleme und werde demnächst Insolvenz anmelden. Da in den Nachrichten davon noch keine Rede war, verkauft ihr eure Aktien dieser Bank und entgeht damit dem erwarteten Kursrutsch. Diese Information ist privater Natur – man nennt sie auch Insiderinformation. Das Handeln auf Grundlage dieser Information, der Insiderhandel, ist in westlichen Staaten verboten und wird streng bestraft und zwar auch dann, wenn ihr von einem Dritten einen Tipp erhalten habt.

Grundzüge des Value-Investings nach Warren Buffett

Der Starinvestor Warren Buffett interpretiert Famas „random walk“ von Aktienkursen völlig anders. Jeden Tag, so Buffetts Lehrer Benjamin Graham, kommt „Mr. Market“ – eine Metapher für den Aktienmarkt – bei euch vorbei und bietet ein Wertpapier zum Verkauf an. Er ist allerdings ein manisch-depressiver Typ: An einem Tag sieht er die Zukunft rosa und ruft Phantasiepreise für eine Aktie auf; an einem anderen Tag wittert er das nahende Ende aller Tage und würde euch die Aktie zu einem Spottpreis verkaufen.

Anders als Fama ist Buffett nun der Meinung, dass Investoren sehr wohl einen wahren, fairen Wert einer Aktie ermitteln können, der grundsätzlich immer vom aktuellen Kurs abweicht. Hat der Investor errechnet, dass ein Papier 20 € je Stück wert ist und bietet „Mr. Market“ es für 10 € je Stück an, wird der Investor zuschlagen. Lautet das Angebot 40 €, wird er „Mr. Market“ nachhause schicken und auf einen depressiveren Tag seines Handelspartners warten.

Der faire Wert einer Aktie ist nach Buffett ihr sogenannter innerer Wert („intrinsic value“). Man ermittelt ihn, indem man das Geschäftsmodell des Unternehmens eingehend analysiert und auf hohe Qualität achtet. Ein Beispiel soll an dieser Stelle genügen: Hat das Unternehmen einen starken und langfristigen Wettbewerbsvorteil – z.B., weil es über eine sehr beliebte Marke verfügt wie Apple über das iPhone –, ist davon ausgehen, dass das Unternehmen langfristig höhere Erträge erwirtschaftet als andere Firmen. Den fairen Wert der Aktie errechnet Buffett, indem er den Wert des Unternehmens aus öffentlich verfügbaren Daten ermittelt und diesen Wert durch die Gesamtzahl der Aktien dieses Unternehmens dividiert (mehr dazu in einem weiteren Beitrag).

Der Unterschied zwischen Vertretern der Effizienzmarkthypothese und Value-Investoren wie Buffett ist ein philosophischer: Beide Schulen beobachten schwankende Aktienkurse, allerdings schwankt nach Ansicht Ersterer der faire Preis, nach Ansicht Letzterer nur der Marktpreis (bei konstantem fairem Preis); Kapitalmärkte neigen also nach dieser Sicht zu höchst irrationalen Unter- und Übertreibungen. Daraus ergibt sich, dass es nach Buffetts Meinung sehr wohl Über- und Unterbewertungen gibt, von denen der Investor durch Kauf eines Schnäppchens profitieren kann.

Das Duell: Theorie

Wer liegt richtig? Wie so oft im Leben fällt die Antwort nicht leicht und hat zahlreiche Facetten. Wir sehen uns hier die wichtigsten an, und zwar theoretisch und empirisch.

Theoretisch spricht sicher viel für die Effizienzmarkthypothese. In der Informationsgesellschaft verbreiten sich Nachrichten rasend schnell und die Märkte reagieren in Sekundenbruchteilen auf neue Informationen. Gerade private Investoren verfügen weder über alle Quellen noch über die nötige geistige „Rechenleistung“, um die Flut an Nachrichten zu verarbeiten. Und wie wir bereits im Beitrag zur strategischen Asset Allokation gesehen haben, erlauben wissenschaftliche Untersuchungen historischer Daten durchaus, langfristige Renditen und z.B. Faktorprämien zu ermitteln.

Auch für erfolgreiche Investoren wie Warren Buffett hat die Kapitalmarkttheorie eine Erklärung: Wirft man Milliarden an individuellen Investoren in einen Topf, gebietet die schiere Anzahl, dass zumindest einige wenige davon auch über Jahrzehnte hinweg immer „Glück“ mit ihren Investments haben, die allermeisten aber eben nicht – sie erreichen langfristig nur die durchschnittliche Rendite oder weniger.

Eines der gewichtigsten theoretischen Gegenargumente setzt bei genau dieser großen Zahl und damit beim Effizienzgedanken an. Treffen die Prämissen der Effizienzmarkthypothese am Aktienmarkt immer zu? Nun, während ein großes Finanzmarktportal angibt, dass alleine Apple von über 30 verschiedenen Analysten regelmäßig begutachtet wird, wird so manch kleinere Titel überhaupt nicht von Analysten abgedeckt. Die vollständige Information kann in diesen Fällen (und anderen) mit gutem Grund bezweifelt werden.

Dazu kommen regulatorische und institutionelle Anlagerichtlinien. Die meisten Profis wie z.B. die Manager von Investmentfonds müssen sich bei der Auswahl ihrer Investments an Vorgaben halten, die bestimmte Investitionen ausschließen. Das betrifft etwa die Aktien kleiner Unternehmen: Man nehme an, ein hoch kapitalisierter Pensionsfonds wolle 200 Mio. € in die Aktie eines Unternehmens stecken, das an der Börse insgesamt nur 300 Mio. € wert ist. Dann hätte der Fonds nicht mehr eine bloße Finanzbeteiligung, sondern avancierte zum Mehrheitseigner des kleinen Unternehmens. Da in diesem Fall zahlreiche gesetzliche Vorgaben schlagend würden, die nicht im Interesse eines auf bloße Anlage ausgerichteten Fonds liegen, verbieten ihre Anlagerichtlinien dies mit gutem Grund.

Das Duell: Empirie

In empirischer Hinsicht zeichnet sich ein noch gemischteres Bild. Vertreter der Effizienzmarkthypothese verweisen zumeist auf die historischen Daten der aktiv gemanagten Investmentfonds, d.h. solcher Fonds, die gezielt Wertpapiere auswählen, um den Markt zu schlagen. Langfristig angelegte Studien demonstrieren eindrucksvoll, dass es nur einem sehr kleinen Teil der Fonds gelingt, über einen Zeitraum von zehn Jahren und mehr eine höhere Rendite als der breite Markt zu erzielen (zieht man die höheren Kosten der Fonds ab, sieht es noch düsterer aus). Und welche Fonds die Überrendite erzielen, so die Wissenschaftler, lässt sich immer nur im Nachhinein beobachten, ist also für den Investoren vergebene Liebesmüh.

Etwas anderes suggerierende Beobachtungen führen diese Forscher auf den „survivorship bias“ zurück. Gemeint ist damit eine verzerrte Wahrnehmung der Überlebenden, also der erfolgreichen Investoren. Mediale Aufmerksamkeit erhalten Menschen wie Warren Buffett oder Peter Lynch, weil sie Erfolg hatten. Niemand interviewt einen Investoren, der über Jahrzehnte hinweg erfolglos versucht hat, mehr Rendite als der breite Markt zu erzielen. Und das schon alleine deshalb, weil dieser Investor – sofern es sich um einen Fonds handelt – vermutlich gar nicht mehr existieren wird.

Das schillerndste empirische Gegenbeispiel ist zweifellos Warren Buffett. Nimmt man die von ihm kontrollierte Holding Berkshire Hathaway als Gradmesser, so hat Buffett seit Mitte der 1960er Jahre eine durchschnittliche, jährliche Rendite von ca. 20% erzielt. Das ist mehr als doppelt so viel wie die durchschnittliche Rendite des breiten Marktes im selben Zeitraum.

Alles nur Glück, wie im Abschnitt zur Theorie erläutert? Buffett konterte das Argument in einer Rede an der Columbia Business School im Mai 1984. Natürlich sei es theoretisch schlüssig, dass aus einem hinreichend großen Pool von Individuen (also z.B. Millionen von Investoren) bei einem täglich durchgeführten Münzwurf auch nach vielen Jahren einige, wenngleich sehr wenige übrig blieben, die Kopf oder Zahl jedes einzelne Mal korrekt vorhergesagt hätten. Bezogen auf die mutmaßlich zufällig schwankenden Aktienkurse hieße das, Buffett sei eben einer der wenigen Glücklichen.

Sodann zählte er eine Handvoll dieser über Jahrzehnte erfolgreichen Investoren auf und schloss mit der Frage: Wirkt es nicht verdächtig, dass ausgerechnet jene Investoren langfristige Überrenditen erzielten, die Value-Investing betrieben und ihre Ausbildung bei Benjamin Graham genossen hatten?

Fazit: Die Entscheidung für eine bestimmte Anlagestrategie bedeutet, auch wenn uns das nicht bewusst ist, implizit auch immer eine Grundsatzentscheidung: Halten wir die Aktienmärkte für effizient und den aktuellen Kurs für den Fairen, oder halten wir sie für nicht effizient und den aktuellen Kurs für eine Über- oder Unterbewertung? Ich persönlich kann mich bisher nicht eindeutig festlegen und verfolge beide Ansätze in getrennten Depots. Die Zeit wird zeigen, welches besser läuft. Was die anderen polarisierenden Fragen aus dem ersten Abschnitt angeht, ist die Sache einfacher: Dortmund, Jedi und Kölsch. Dazu morgens Elmex, abends Aronal (no risk, no fun).

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