Chartanalyse und Sentimentanalyse stehen für Strategien, die euch den Blick in Unternehmenskennzahlen ersparen und stattdessen auf andere Charakteristika von Wertpapieren und Märkten achten. Die Grundzüge schauen wir uns in diesem Beitrag an.
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Rückblick und Einführung
Im letzten Beitrag haben wir uns mit der zeitlosen Frage beschäftigt, ob die Kapitalmärkte grundsätzlich effizient (d.h. der aktuelle Kurs des Wertpapiers immer auch der faire Preis ist) oder ineffizient sind (d.h. Über- und Unterbewertungen von Wertpapieren existieren). Wer mehr an effiziente Märkte glaubt, wird sich tendenziell für passive Anlagestrategien über Sparpläne, einen ETF oder die strategische Asset Allokation entscheiden.
Wer die Kapitalmärkte hingegen für ineffizient hält, kann aus einem breiten Kasten verschiedener Strategien auswählen und sein Glück beim Schlagen des Marktes versuchen. Der im letzten Beitrag als Vertreter dieser Sichtweise ins Feld geführte Warren Buffett steht mit dem Value-Investing für eine Unterdisziplin der Fundamentalanalyse. „Fundis“ wie Buffett analysieren das hinter einer Aktie stehende Unternehmen und legen dabei großen Wert auf Kennzahlen aus der Gewinn-und-Verlustrechnung, der Bilanz und der Kapitalflussrechnung.
Daneben existieren mit der Chartanalyse (auch technische Analyse genannt) und der Sentimentanalyse zwei weitere große Strategien, die das Erzielen einer Überrendite ermöglichen sollen.
Chartanalyse: Eine Einführung
Die Chartanalyse geht mutmaßlich auf den US-amerikanischen Journalisten Charles Dow zurück, der auch Namensgeber des bekannten Dow-Jones-Index ist. Technische Analysten ignorieren Nachrichten und Unternehmensdaten und konzentrieren sich stattdessen auf die Charts, also die Kursverläufe von Aktien. Diesem Vorgehen liegt die Annahme zugrunde, dass die Charts Unmengen von Informationen enthalten, die Investoren und Spekulanten ausnutzen können.
In den Kursverläufen suchen Chartanalysten nach Mustern, die sich im Verlauf der Börsengeschichte stetig wiederholen. Ein sehr einfaches, auch von Otto-Normalverbraucher anwendbares Beispiel ist der Trendkanal.

Verbindet man die jeweils unteren und oberen Kursmarken eines Charts, ergibt sich daraus ein Kanal, in dem sich der Kurs bewegt. In der Grafik sehen wir einen klaren Aufwärtstrend. Beginnt nun der Kurs zu fallen und durchbricht er die untere Linie, würde der technische Analyst verkaufen, denn der Aufwärtstrend wäre damit gebrochen.

Ein weiteres Muster dieser Art sind Widerstands- (schwarze Linie oben) und Unterstützungslinien (schwarze Linie unten). Wie ihr sehen könnt, scheint der Aktienkurs nicht höher als die obere Begrenzung steigen zu wollen, bzw. umgekehrt von der unteren Begrenzung immer wieder abzuprallen. Durchbricht er die Obere doch nach oben, wäre dies ein Kaufsignal, bzw. ein Verkaufssignal, wenn er die untere Unterstützungslinie nach unten durchbricht.
Die Chartanalyse kennt neben diesen sehr einfachen Formationen noch viele weitere. Zu den Bekannteren zählen die gleitenden Durchschnittslinien, die bei Durchbrechen nach oben oder unten ebenfalls Kauf-, bzw. Verkaufssignale auslösen. Daneben suchen technische Analysten noch nach Dreiecks-, Candlestick-, Shooting Star- und vielen anderen geometrischen Formationen mit meist klangvollen Namen. Ziel ist immer, aus dem bisherigen Chartverlauf Hinweise auf den künftigen Kursverlauf, also das „Momentum“ (den Schwung) zu gewinnen.
Vor- und Nachteile der Chartanalyse
Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Als ich damit begann, mich systematisch mit der Kapitalanlage und Börsen zu beschäftigen, fand ich die technische Analyse sehr spannend und intuitiv sinnvoll. Meine Meinung hat sich aber schnell geändert, sodass ich Börsennews wie „charttechnisch sieht es für den DAX düster aus“ mittlerweile weitestgehend ignoriere.
Gerade für kurzfristig orientierte Anleger – man könnte auch sagen Spekulanten – bietet die Chartanalyse trotzdem einige Vorteile. Zum einen muss man sich nicht mit der aufwändigen Analyse von Fundamentaldaten (z.B. der Eigenkapitalquote, dem Kurs-Gewinn-Verhältnis, etc.) auseinandersetzen und spart viel Zeit, die man als kurzfristiger Trader ohnehin nicht für Entscheidungen aufwenden kann.
Zum anderen hat die technische Analyse durchaus Gewicht – selbst für jene, die nicht an sie glauben! Durch die Menge des Kapitals, das nach Regeln der Chartanalyse angelegt wird, kann der erwartete Kurstrend mitunter erst ausgelöst werden. Erwarten Fondsmanager einen Aufwärtstrend und kaufen Wertpapiere, wird deren Kurs auch steigen. Der erwartete Aufwärtstrend wird zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Das untermauern auch langfristig orientierte Studien, die das Momentum – also die Neigung eines steigenden Kurses, noch weiter zu steigen und vice versa – als Faktorprämie identifiziert haben.
Zu den Nachteilen der Chartanalyse gehört, dass sie sowohl theoretisch als auch empirisch auf wackligen Beinen steht. Vertreter der Effizienzmarkthypothese und auch „Fundis“ wie Value-Investoren verwerfen sie kategorisch. Erstere halten den Kursverlauf von Wertpapieren für einen „random walk“, den man nicht prognostizieren kann.
Letztere halten den inneren Wert eines Unternehmens für den entscheidenden Faktor bei der Abschätzung des künftigen Kursverlaufs. Weil er einen akuten Skandal für nur temporär hielt und den inneren Wert von American Express weit höher als den damaligen Marktwert einschätzte, investierte Warren Buffett Mitte der 1960er Jahre einen Großteil seines Kapitals in die AMEX-Aktie, was sich als Griff in die Goldtruhe entpuppte. Chartanalysten hätten hier nie und nimmer zugegriffen, weil alle Trendindikatoren nach unten wiesen.
Sentimentanalyse: Eine Einführung
Die Sentimentanalyse (oder Stimmungsanalyse) ist das Nesthäkchen unter den großen Börsenstrategien. Theoretisch geht sie auf die auch innerhalb der Wirtschaftswissenschaften noch recht junge Verhaltensökonomik („behavioral economics“) zurück, die als Gegenpol zum lange dominanten „rational choice“-Ansatz fungiert. Während Letzterer postuliert, dass Marktakteure sich im Allgemeinen rational verhalten und darauf aus sind, ihren Nutzen zu maximieren, richtet sich die Verhaltensökonomik eher am zeitlosen, tatsächlich zu beobachtenden Verhalten der Menschen aus.
Ein klassisches Beispiel: Vor euch liegen 100 € auf dem Tisch, die ihr mit eurem Gegenüber teilen sollt. Ihr dürft genau einen Vorschlag für die Verteilung machen. Nimmt euer Gegenüber den Vorschlag an, werden die 100 € nach eurem Vorschlag verteilt. Lehnt das Gegenüber ab, erhält niemand von euch beiden etwas. Nach dem rational choice-Ansatz solltet ihr vorschlagen, selbst 99,99 € zu erhalten – da 0,01 € mehr als 0 € sind, würde euer Gegenüber den Vorschlag annehmen. Tatsächlich suggerieren entsprechende Experimente aber, dass das Gegenüber nur solche Vorschläge annimmt, die ein Mindestmaß an Fairness aufweisen.
Sentimentanalysten ziehen ihre Schlüsse einerseits aus Beobachtung tatsächlichen Verhaltens und andererseits aus Umfragen. Zu den tatsächlichen Beobachtungen gehört z.B. der Herdentrieb des Menschen: Wenn alle eure Bekannten Aktien kaufen, dann ist es recht wahrscheinlich, dass ihr früher oder später der Herde folgt und auch welche kauft. Das kann im Ernstfall zu einer Milchmädchen-Hausse und einem nahenden Crash führen. Die sinnvollere Anlagestrategie suggeriert stattdessen ein Bonmot Warren Buffets: „Sei gierig, wenn andere ängstlich sind, und sei ängstlich, wenn andere gierig sind.“
Umfragebasierte Sentimentanalysen verfolgen das Ziel, durch stichprobenartige Befragungen von Marktakteuren Rückschlüsse auf die an den Kapitalmärkten vorherrschende Stimmung zu ziehen. Prominente deutsche Formate sind der Sentix oder die regelmäßige Handelsblatt-Umfrage DAX Sentiment unter Privatanlegern. Gemessen wird unter anderem, wo auf einer Skala zwischen Panik und Gier sich die Anleger aktuell einordnen.
Die Interpretation der Ergebnisse ist auf den ersten Blick nicht intuitiv. Sind die Investoren in Panik, signalisiert die Sentimentanalyse einen guten Einstiegszeitpunkt; sind sie euphorisch, sollten Anleger lieber verkaufen. Der scheinbare Widerspruch lässt sich jedoch leicht auflösen: Wenn alle in Panik sind, werden sie kaum großartig am Markt investiert sein. Es gibt also sehr viele potentielle Käufer und nur noch wenige potentielle Verkäufer. Wenn kaum noch verkauft wird, gibt es auch nicht mehr viel Abwärtspotenzial für die Kurse (und natürlich umgekehrt).
Vor- und Nachteile der Sentimentanalyse
Obwohl ich persönlich niemanden kenne, der seine Anlageentscheidung ausschließlich auf der Sentimentanalyse aufbaut, erfreut sie sich doch einer großen Beliebtheit als Hilfsmittel.
Zu den großen Vorteilen gehört, dass man seine eigene Anlageentscheidung – übrigens ganz gleich, ob mittels Fundamental- oder Chartanalyse getroffen – gegen einen zusätzlichen Prüfstein messen kann. Seid ihr der Meinung, eine bestimmte Aktie ist reif für den Kauf, weil sie den Trendkanal nach oben durchbrochen hat oder fundamental unterbewertet erscheint? Dann schaut euch an, ob die Stimmung am Markt Panik oder zumindest Angst suggeriert, denn dann signalisiert ein zusätzlicher Indikator, dass die Aktie tatsächlich ein Kauf ist. Suggeriert das Sentiment das Gegenteil, solltet ihr eure Entscheidung nochmals kritisch prüfen.
Ein Nachteil beobachtungsbasierter Sentimentanalysen liegt in den Interpretationsspielräumen des Analysten. Ein Beispiel aus meinem eigentlich erlernten Beruf als Historiker: Es ist leicht zu beobachten, dass die hessische Politikerin Andrea Ypsilanti nicht zur Ministerpräsidentin gewählt wurde, weil eine Handvoll Abgeordneter aus ihrer eigenen Fraktion ihr die Stimme verweigerten. Zieht man noch Interviews als Quelle hinzu, liegt die Begründung nahe, dass ihre Kollegen die Koalition mit der Linken nicht verantworten wollten.
Ob dies deren tatsächlicher Beweggrund war, wird sich aber nie mit Sicherheit ermitteln lassen; vielleicht war ihnen die Koalition recht, aber sie hegten einen nie öffentlich geäußerten Groll gegen Frau Ypsilanti. Ähnlich verhält es sich auch am Kapitalmarkt: Vielleicht verkaufen alle die Aktie von American Express, weil sie der Herde folgen; vielleicht haben sie aber auch tatsächlich den Glauben an die Zukunft des Unternehmens verloren.
Der größte Nachteil umfragebasierter Sentimentanalysen liegt, neben auch hier vorhandenen Interpretationsspielräumen, an grundlegenden Problemen der Demoskopie wie z.B. sozialer Erwünschtheit. Auch hier soll ein Beispiel aus einem anderen Spielfeld genügen: Am Vorabend der Bundestagswahl 2005 stand die CDU/CSU bei 41-42% in den aktuellen Wahlumfragen. Die Beobachter staunten nicht schlecht, als tags darauf nur 35% der Wahlberechtigten tatsächlich für die Union stimmten.
Erklärt wurde dieser Effekt u.a. mit sozialer Erwünschtheit: Die Beliebtheit der regierenden rot-grünen Koalition war auch in den Medien derart im Keller, dass Befragte in Umfragen möglicherweise Druck verspürten, gegenüber dem Meinungsforscher ihre wahre Wahlpräferenz zu verschweigen. In der geheimen Abstimmung an der Wahlurne löste sich dieser Effekt dann eindrucksvoll auf. Ähnlich an der Börse: Welche verdeckten Motive die Antworten auf Sentimentumfragen inspirieren, lässt sich kaum ermitteln.
Fazit: Kauf- oder Verkaufsentscheidungen lassen sich auch ohne Bilanzen treffen, wenn man sich für das Mittel der Chartanalyse und das (Hilfs-)Mittel der Sentimentanalyse entscheidet. Jeweils mit Vor- und Nachteilen behaftet, eignen sich diese beiden Strategien jedoch tendenziell eher für kurz- als für langfristig orientierte Anleger.